Gefängnisaufstand: Die Toten von Attica 1971 - WELT (2024)

Im September 1971 wagten fast 1300 Insassen des Hochsicherheitsgefängnisses Attica im US-Bundesstaat New York die Revolte. Sie brachten Aufseher in ihre Gewalt. Der Gouverneur ließ stürmen – mit Tränengas und Schrotgewehren.

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Ein Funke kann noch so klein sein – und dennoch einen Großbrand auslösen. Es war nur eine an sich harmlose Rauferei am Mittwoch, dem 8. September 1971, der in den heftigsten Gefangenenaufstand der neueren amerikanischen Geschichte mündete, der mehr als 40 Menschen das Leben kostete. Kleiner Anlass, große Wirkung.

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Auf dem Hof der Attica Correctional Facility waren zwei Gefangene in Streit geraten. Derlei war Alltag im Hochsicherheitsgefängnis des US-Bundesstaates New York, in dem harte, manche Verteidiger sagten: unmenschliche Haftbedingungen herrschten. Das vier Jahrzehnte alte Gefängnis war chronisch überbelegt: Statt geplanter 1200 Gefangener saßen im September 1971 mehr als 2200 Männer hier ein. Sie mussten 14 bis 16 Stunden am Tag in ihren Zellen verbringen, ihre Post wurde von Wärtern gelesen, die zulässige Lektüre stark eingeschränkt; bei Besuchen waren sie von ihren Familien durch Maschendraht getrennt. Die medizinische Versorgung war schlecht, das Straf- und Belohnungssystem korrupt, Rassismus allgegenwärtig.

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Außerdem hatte es in wenige Tage zuvor im kalifornischen Staatsgefängnis San Quentin einen Zwischenfall gegeben: Ein Mitglied der Black-Panther-Bewegung hatte einen Fluchtversuch unternommen, dabei drei Wärter und zwei Insassen getötet, bevor er selbst erschossen wurde. Nur einen Tag nach seinem Tod waren etwa 700 Häftlinge in Attica in Hungerstreik getreten.

Entsprechend schlecht war die Stimmung unter den Gefangenen. Als die Aufseher auf die harmlose Rauferei nach Meinung einiger Insassen mit überharten Strafen wie Einzelhaft für die beiden Streithähne reagierten, kochte die Wut hoch. Einer der beiden, ein gewisser William Ortiz, griff einen Aufseher an, wurde dafür selbst geschlagen und in Einzelhaft gesperrt. Doch am folgenden Morgen, Donnerstag, dem 9. September 1971, hatten die Insassen des Zellenblocks Nr. 5 auf einmal ihre Angst vor der Wachmannschaft verloren.

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Sie befreiten Ortiz und nahmen ihn zum Frühstück mit in die Gefängniskantine. Als sie zurückkehrten, waren die Gittertüren zu den Zellen, die zentral geöffnet und geschlossen werden konnten, zu – anders als gewohnt. Sowohl die Insassen wie die Wärter waren davon überrascht; ein heftiges Handgemenge brach aus, das sich zur Rebellion steigerte. Bis zum Mittag hatten 1281 Teilnehmer des Gefangenenaufstandes vier der fünf Zellenblocks besetzt, die Aufseher kontrollierten lediglich den Rest. Die Häftlinge steckten Teile der Anstalt in Brand, darunter die Kirche.

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Zwei Hundertschaften Bereitschaftspolizei des Staates New York wurden daraufhin zum Gefängnis geschickt. In Zweiergruppen stürmten sie die von den Gefangenen besetzten Gebäudeteile und verschossen große Mengen Tränengas. Die Polizisten sollten „aufs Ganze“ gehen. „Wenn auf der anderen Seite jemand ums Leben kommen sollte“, hatte ihr Kommandant vor dem Sturmeinsatz gesagt, „dann soll es eben so sein. Bleibt immer zwei und zwei zusammen – und lasst euch nicht eure Waffen abnehmen.“

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So gelang es, im Sturmangriff drei der vier besetzten Zellenblocks zurückzuerobern. Den vierten Block jedoch hielten die Aufrührer – und 38 Aufseher als Geiseln. Sie wurden gefesselt, außerdem verband man ihnen die Augen. Einige führten die Aufständischen bewusst an von außen einsehbaren Fenstern vorbei: „Seht, sie leben noch“, rief dazu einer der Häftlinge aus dem Zellenblock heraus. Ein anderer Gefangener deutete vom Fenster aus auf einen der festgehaltenen Wächter und machte dabei die Gebärde des Halsabschneidens.

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Gewaltsam war da nichts vorerst mehr zu erreichen, es musste verhandelt werden. Parallel hatten einige Anwälte rebellierender Insassen die einstweilige Verfügung eines Bundesgerichts erwirkt, die den Behörden „physische Repressalien“ wegen des Aufstandes untersagte.

Die Gefangenen aber forderten nun mehr: religiöse und politische Freiheit, Abschaffung der Briefzensur, höhere Löhne in den Anstaltsbetrieben und Möglichkeit, ihre Freizeit „erholsam zu gestalten“. Doch gleichzeitig taten sich innerhalb der Aufständischen tiefe Gräben auf: Die radikaleren von ihnen verlangten freien Abzug in „ein nicht imperialistisches Land“ ihrer Wahl. Andere, der Zuchthausrebellen forderten lediglich Verbesserungen im Strafvollzug.

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    Ressort:PanoramaBrasilien

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Am vierten Tag des Aufstandes, Sonntag, dem 12. September 1971, starb ein bei den Kämpfen schwer am Kopf verletzter Aufseher. Daraufhin entschloss sich New Yorks Gouverneur Nelson Rockefeller, die Geiselnahme gewaltsam zu beenden. Den Gefangenen wurde ein Ultimatum gestellt, bis 8.45 Uhr am Montagmorgen alle Geiseln unversehrt freizulassen.

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Als das nicht geschah, stürmten eine Stunde später mehr als tausend Bereitschaftspolizisten schwer bewaffnet den besetzten Block, unterstützt von Einheiten der Nationalgarde (der Reserve der aktiven US Army) und vier Hubschraubern. Sie schossen teilweise rücksichtslos mit Schrotgewehren. Nach fast sechs Stunden Kampf und dem massiven Einsatz von Tränengas (die Polizisten trugen Stahlhelme und Gasmasken) war der Aufstand gegen 16 Uhr beendet.

Für neun der Geiseln verlief der Zugriff tödlich: Sie starben vermutlich durch Schüsse während des Sturmangriffs. Die übrigen 29 wurden verletzt, aber lebend befreit. Einer von ihnen berichtete am selben Abend: „Der Häftling, der mich töten sollte, flüsterte mir ins Ohr: ,Ich bringe es nicht übers Herz, den Auftrag auszuführen. Ich ritz’ Dich nur mit dem Messer!’ Er ritzte meine Kehle tatsächlich, drückte ein wenig an der Wunde, das Blut floss – und legte sich über mich. So kam ich mit dem Leben davon.“

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Beim Zugriff wurden 32 Häftlinge getötet und 85 zum Teil schwer verletzt. Wie unterlegen die Insassen waren, zeigt sich an der Tatsache, dass gerade einmal einer der Bereitschaftspolizisten verwundet wurde. In den folgenden vier Jahren klagte die Justiz 62 Teilnehmer des Aufstandes in 42 Verfahren an; auch ein Mann der Bereitschaftspolizei musste sich wegen besonders gewaltsamen Vorgehens verantworten.

Alle, die sich im Verfahren schuldig bekannt hatten, wurden im Dezember 1976 amnestiert. Gleichzeitig schlug der neue Gouverneur Hugh Carey (Nelson Rockefeller war als Vizepräsident der USA ins Weiße Haus gewechselt) die noch laufenden Prozesse gegen Staatsbeamte nieder.

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Überlebende Häftlinge sowie Angehörige von Häftlingen, die beim Sturm, getötet wurden, verklagten ihrerseits den Staat New York wegen Verletzungen der Bürgerrechte durch Staatsbeamte. Nach jahrzehntelangen Verhandlungen stimmte Gouverneur George Pataki im Jahr 2000 zu, zwölf Millionen Dollar einschließlich Anwaltskosten, also im Ergebnis acht Millionen Dollar, an die Kläger zu zahlen, um den Fall beizulegen. Überlebende Gefängnisangestellte und die Familien der getöteten Aufseher erhielten 2005 zwölf Millionen Dollar netto.

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